- In Teheran demonstrieren so viele junge Leute wie selten zuvor.
- Die Stimmung erinnert an Osteuropa 1989 – aber auch an China vor dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens.
- Die Spannung wächst: Schlägt das Regime brutal zurück?
Dieser Bericht erschien in der Hannoversche Allgemeine Zeitung und rnd.de.
Das Freitagsgebet wurde zur Machtdemonstration. Erstmals seit acht Jahren leitete Irans oberster geistlicher Führer, der 80 Jahre alte Ajatollah Ali Chamenei, die traditionelle religiöse Versammlung wieder persönlich – und nutzte sie sogleich zu neuen Attacken auf den Feind: Der Westen sei zu schwach, „um die Iraner in die Knie zu zwingen“, sagte Chamenei am Freitag in Teheran.
US-Präsident Donald Trump sei ein „Clown“, der dem Iran „einen giftigen Dolch“ in den Rücken rammen wolle. Die vielen Menschen, die bei der Beerdigung des von den USA getöteten iranischen Generals Ghassem Soleimani auf den Straßen waren, hätten gezeigt, „dass die Iraner weiterhin die Islamische Republik unterstützten“.
Aber stimmt das alles noch? Auf den Straßen waren zuletzt auch Regimegegner, Tausende sogar. Im Iran ist eine Unruhe entstanden, wie es sie lange nicht gegeben hat.
Der Drohnenangriff der USA auf einen iranischen General und der Abschuss eines ukrainischen Passagierflugzeugs durch Irans Luftwaffe sind nur die letzten Elemente in einer Kette von Ereignissen, die in diesen Tagen erstaunlich viele Iranerinnen und Iraner zu wütenden Protesten auf die Straße getrieben haben.
Westliche Medien konzentrieren sich naturgemäß auf Interventionen westlicher Staaten. So ging die von US-Präsident Donald Trump befohlene Tötung des iranischen Generals Ghassem Soleimani prompt rund um den Globus, erst als Breaking News, dann als Talkshowthema.
Wenn die Polizei Morde begeht
Im Iran aber hatte sich – ganz ohne Einmischung von außen – schon zwei Monate zuvor die Lage dramatisch zugespitzt. Die Obrigkeit war im November gegen Protestierende im ganzen Land mit äußerster Härte vorgegangen. Schüsse fielen, in mehreren Städten wurden Tausende von Menschen verhaftet.
Amnesty International spricht von „erschütternden Augenzeugenberichten“ und Videodokumenten. Demzufolge eröffneten iranische Uniformierte das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten – und gleich reihenweise wurden Polizisten zu Auftragsmördern des Regimes.
Schussverletzungen an Kopf, Herz und Nacken deuteten darauf hin, dass es nicht um Gefahrenabwehr ging, sondern um gezielte Tötungen. Verstörte Eltern fragten oft tagelang nach vermissten Kindern, denn auch viele Minderjährige fanden den Tod. In Shiraz starb der 15-jährige Mohammad Dastankhah in einem Kugelhagel, in Teheran die erst 14-jährige Nikta Esfandani.
„Tut, was immer ihr tun müsst, um diese Leute zu stoppen“ – so soll die Anweisung von Ajatollah Chamenei an die iranische Polizei gelautet haben.
Einige Wochen später zogen investigative Reporter der Nachrichtenagentur Reuters, gestützt auf Aussagen von drei Beamten des iranischen Innenministeriums, eine makabre Gesamtbilanz der Novembermorde:
- Insgesamt wurden im Zuge der Unruhen, die am 15. November 2019 in vielen iranischen Städten gleichzeitig begonnen hatten, rund 1500 Regimekritiker getötet, teils bereits auf offener Straße, teils auch in den überfüllten Gefängnissen.
- 17 Todesopfer waren noch Teenager. Die Mutter eines 16-Jährigen sagte, sie habe ihren Jungen bis zuletzt angefleht, nicht zu den Demonstrationen zu gehen – kurze Zeit später sei er schon tot gewesen: „Sie hatten ihm den halben Kopf weggeschossen.“
- Rund 400 der 1500 Getöteten sind Frauen. Mit Bildern der Getöteten machen seither oppositionelle Frauenbewegungen umso mehr gegen das Regime der Mullahs mobil.
Als zu Jahresbeginn 2020 der iranische General Soleimani durch eine US-Drohne getötet wurde, fielen die Reaktionen der Iraner sehr gemischt aus. Die Staatstreuen, denen man arbeitsfreie Tage gab, gingen wie vom Regime gewünscht zu Trauerkundgebungen auf die Straße. Unter den Chamenei-Treuen sahen manche Soleimani als den kommenden Mann.
Die Regimegegner indessen waren hin- und hergerissen. Einerseits wollen sie keine Gewalt. Andererseits trauern sie Soleimani, der auch seinerseits gewalttätig war, keine Träne nach.
Ist Trump jetzt der Held?
Die 29-jährige iranische Studentin Banafshe* sagt, die vom Staat organisierten Trauermärsche hätten sie wütend gemacht: „Es tat mir echt leid zu sehen, dass so viele Leute glauben, unser Retter sei ein Kommandeur der Stellvertreterkriege in der Region.“
Ähnlich sieht es die ebenfalls 29 Jahre alte Roya. „Einige nahmen an den Trauerfeiern teil, weil sie an den islamischen Fundamentalismus glauben“, sagt die Soziologiestudentin. „Mit denen kann man nicht mal reden.“
War sie als überzeugte Staatsgegnerin froh, dass die Amerikaner Soleimani getötet haben? „Darüber, dass ein Mensch ums Leben kam, habe ich mich nicht gefreut“, sagt Roya. „Ich konnte nicht mal die Bilder vom Tatort anschauen. Aber dass durch seinen Tod das islamische Regime getroffen wurde, hat mich natürlich gefreut. Die Welt hat gesehen, dass die Regierenden im Iran ihren eigenen Helden nicht schützen können.“
Wird nun wiederum Donald Trump zum Helden der iranischen Protestbewegung?
Der 24 Jahre alte Peyman war in den letzten Tagen viel bei Demonstrationen auf den Straßen von Teheran unterwegs. Er erklärt sich ausdrücklich einverstanden mit der Tötung von Soleimani: „Das war richtig und hätte viel früher stattfinden sollen.“ Soleimani sei „eine Ursache des Unheils“ gewesen, sowohl für die irakische wie auch die syrische Bevölkerung. Er könne Trump als Person nicht leiden, sagt Peyman, aber diese Maßnahme habe ihm gefallen.
Banafshe sieht das etwas anders: „Er war von den Revolutionsgarden. Seine Maßnahmen in der Region sind mir bekannt. Aber ich habe mir Sorgen gemacht, weil seine Ermordung zu einem Krieg führen konnte. Ich finde amerikanische Interventionen in der Region genauso schlecht wie die iranischen.“
„Im Endeffekt“ allerdings, da stimmt auch Banafshe zu, sei das Hauptproblem der heutigen iranischen Jugend nicht die Regierung der USA, sondern das islamische Regime in Teheran.
Vor allem dessen immer neue Lügen, Täuschungen und Vertuschungsmanöver sind die Iraner leid – in diesem Punkt treffen sich derzeit viele Strömungen: Junge und Alte, Intellektuelle und Arbeiter, Städter und Landbevölkerung.
Neue Welle der Wut
Eine neue Welle der Wut zog durchs Land, als das Regime einräumen musste, es habe die mit 176 Menschen besetzte ukrainische Passagiermaschine des Flugs PS 572 nach Kiew aus Versehen abgeschossen. Die Iraner stört vor allem, dass das gesamte Regime drei Tage lang alles abstritt und stattdessen einstimmig und entschieden der ganzen Nation ins Gesicht log.
Nur unter Druck der westlichen Staaten, schimpfen die Iraner, habe Teheran schließlich eingestanden, wie es wirklich war. Das eigene Volk aber erfahre von diesem Regime niemals die Wahrheit.
Die Empörung schaukelte sich auf zu einer diesmal vor allem kulturell motivierten Forderung: Man wolle endlich in einem Land leben, in dem es Klarheit und Wahrheit gebe. Das Eingeständnis des Regimes und die begleitende Entschuldigung am Samstag, 11. Januar, kamen bei der Bevölkerung überhaupt nicht gut an. Schon im Laufe des Tages kritisierten gleich mehrere öffentliche Personen, unter anderem Künstler, Politiker, Sportler und Intellektuelle, das Verhalten des Regimes, verlangten einen transparenten Prozess gegen die Verantwortlichen – und riefen zu Protesten auf.
Noch am selben Abend versammelten sich, zur Überraschung von Beobachtern aus dem In- und Ausland, Tausende vor der Amirkabir-Universität im Zentrum von Teheran. Eine von ihnen war Banafshe. Die 29-Jährige studiert seit einigen Monaten in Europa, war aber die letzten Wochen in ihrer Heimat zu Besuch: „Ich bin auf die Straße gegangen, weil ich die Nase voll habe. Ich kann es nicht mehr ertragen, dass das Land nur Leuten gehört, die so inkompetent und so selbstgerecht sind.“
Rund um die Amirkabir-Universität eskalierte die Lage. Auf den Straßen waren ungewöhnlich radikale Parolen gegen das Regime zu hören, viele richteten sich direkt gegen Ajatollah Chamenei als den mächtigsten Mann im Land. Die Demonstranten verlangten seinen Rücktritt als Oberbefehlshaber des Militärs.
Das Modell der Mittelschicht
Woher kam diese ungeahnte Wut? Angehörige der iranischen Mittelschicht fühlten sich vom Abschuss des ukrainischen Flugzeugs offenbar emotional selbst betroffen. Denn an Bord waren viele der Ihren: Iranische Studierende und Akademiker, die über Kiew nach Kanada zurückwollten, in den Beruf, an die Uni. „Aus dem Iran fliehen und sich ein gutes Leben im Westen aufbauen: Teherans obere Mittelschicht sieht in diesem Modell ihre Zukunft“, sagt Banafshe. „Der Abschuss hat uns gezeigt: Es ist uns nicht möglich, unsere Heimat abzuschütteln.“
Anders als Banafshe war der 24-jährige Peyman sowohl in der neuen Protestwelle präsent als auch in der im November. Peyman sieht einen Unterschied zwischen den aktuellen Protesten und der großen Welle im vergangenen November. Die letzten Demonstrationen, die nach der Verdreifachung des Benzinpreises angefangen hatten, seien vor allem von der Unterschicht und der unteren Mittelschicht getragen worden, jetzt seien aber in erster Linie Studenten und Studentinnen sowie die Teheraner Mittelschicht dabei.
Können jetzt, wenn sich die Gewichte weiter so addieren, die Machtverhältnisse im Iran komplett kippen?
„Ich setze darin keine Hoffnung“, sagt Banafshe. „Das Regime wird einfach so viele Menschen umbringen, bis sich die Lage wieder entspannt.“ Kommt es zum Bürgerkrieg? „Leute wie ich nehmen keine Waffe in die Hand“, sagt die Iranerin. Jüngst ging sie durch die Drehkreuze am Istanbuler Flughafen und flog zurück an ihren Studienort, in einem friedlichen und freien Land in der EU.
*Name geändert